BEIRAT FÜR MUNDARTFORSCHUNG
- Bayerisches Wörterbuch -
Bayerische Akademie der Wissenschaften * Alfons-Goppel-Str. 11 * 80539 München
Prof. Dr. A.R. Rowley
Stellungnahme zur Aufnahme des Bairisch, Fränkisch, Schwäbisch-Alemannisch im Rahmen der Charta der europäischen Minderheiten- und Regionalsprachen
In Bayern werden im Alltag vor allem Idiome aus drei großen Dialektgruppen gesprochen, die in der Fachterminologie Bairisch, Ostfränkisch (im Folgenden nur: Fränkisch) und Schwäbisch-Alemannisch genannt werden. Obwohl es Unterschiede innerhalb einer Gruppe gibt, kommen aus praktischen Gründen vor allem diese drei Gruppen als "Regionalsprachen"in Frage. Ob auch die anderen im Freistaat vertretenen Dialektgruppen Thüringisch (um Ludwigsstadt) und Rheinfränkisch (um Aschaffenburg und in Teilen der Rhön) ebenfalls berücksichtigt werden oder dem "Fränkischen" zugeschlagen werden, wäre eine politische Entscheidung. Geschützt sind nach Teil 1, Art. 1(a) i, der Charta ausdrücklich nur Sprachen, die erstens "herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates".
- Dies trifft für alle drei Gruppen zu; Sprachen ferner, so Art. 1(a) ii, "die sich von der (den) Amtssprache(n) dieses Staates unterscheiden".
- Die Amtssprache in der Bundesrepublik Deutschland ist "deutsch", aber die de facto-Amtssprache ist die normierte neuhochdeutsche Standardsprache, die meist pars pro toto schlicht "Deutsch" genannt wird. Demnach trifft die zitierte Bestimmung für das Bairische, das Fränkische und das Schwäbisch -Alemannische zu, da sie sich von der neuhochdeutschen Standardsprache unterscheiden.
Alle Sprachvarietäten - das Bairische, das Fränkische, das Schwäbisch-Alemannische und die standardisierte neuhochdeutsche Schriftsprache - sind wie auch das Niederdeutsche historisch gesehen Dialekte einer größeren historischen Einheit "Westgermanisch", dessen Varianten oft auch unter dem Schlagwort "Deutsch" zusammengefasst werden.
(Auch das Niederländische gehört dazu, es wird auf Englisch als "dutch" bezeichnet, ein Wort gleicher Herkunft wie deutsch.) Wie steht es dann mit der Einschränkung am Schluss von Art. 1 der Charta: "[der Ausdruck Regional- oder Minderheitensprache] umfasst weder Dialekte der Amtssprache(n) des Staates noch die Sprachen von Zuwanderern"?
Das Bairische, das Fränkische und das Schwäbisch-Alemannische sind keine Dialekte der neuhochdeutschen Schriftsprache als Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn sie von Teilen der Sprachgemeinschaften als Dialekte des Deutschen gesehen werden, sind sie eigenständig entstandene, historisch gewachsene Sprachformen mit eigener, von der Schriftnorm unabhängiger Grammatik. Unter anderem mit dieser Begründung wurden zum Beispiel das schottische Lollans, das Gallizische in Spanien oder das Venezianische in Italien als Regionalsprachen deklariert. Vom Ausschlusskriterium "Dialekt" kann also im Falle des Bairischen, Fränkischen, Schwäbischen aus linguistischer Sicht abgesehen werden; es kommt allerdings auf die begriffliche Unterscheidung an, was ein "Dialekt" ist und was eine "Sprache".
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Vor einer linguistischen Bestimmung dieser Begriffe kapitulieren Vertreter der sprachwissenschaftlichen Fächer oft in der Weise, dass sie sagen, die Unterscheidung sei keine linguistische, sondern eine politische, veranschaulicht durch den Spruch: "eine Sprache, das ist ein Dialekt mit Heer und Marine" (so der US-amerikanisch Linguist Uriel Weinreich).Aber es gibt linguistische Voraussetzungen für den Sprachenstatus.
Der Fall "Niederdeutsch" ist hier lehrreich. Gutachter konnten dem Schleswig-Holsteinischen Landtag plausibel machen, dass das Niederdeutsche objektiv "eine historische Einzelsprache ... in der Existenzform eines (Kultur-)Dialekts und mit dem Status einer Regionalsprache" sei. Wichtig war, dass Niederdeutsch nicht aus dem Hochdeutschen ableitbar ist. Ferner wurde herausgestellt, dass im Mittelalter Niederdeutsch als geschriebene Sprache und als Geschäftssprache der Hanse verwendet wurde. Auch der Bundestag war bereit, sich überzeugen zu lassen, dass das Niederdeutsche eine Sprache ist.
Wie (linguistisch) eigenständig erweisen sich die in Bayern gesprochenen Varietäten? Ich unterscheide im Folgenden eine sprachhistorische und eine systemlinguistische Sichtweise. Meine Beispiele nehme ich vor allem aus dem Bairischen, sie gelten aber entsprechend für das Fränkische und Schwäbisch-Alemannische.
Aus sprachhistorischer Sicht sind das Bairische, das Fränkische, das Schwäbisch-Alemannische wie das Niederdeutsche organisch aus dem Westgermanischen entstanden und nicht aus der Schriftsprache ableitbar, sie existieren in der Form von Kulturdialekten und könnten den Status von Regionalsprachen beanspruchen. In der Epoche der Hanse waren in allen deutschen Regionen stark regional geprägte Schreibsprachen verbreitet; in Bayern datierte man die Urkunden zum Beispiel mit Erchtag und Pfinztag (die Irta und Pfinzta der heutigen Mundarten für 'Dienstag' und 'Donnerstag'), schrieb das Wort Katze regelmäßig ohne Schluss-e (Katz) oder Nase mit Schluss-en (Nasen) u.v.a.m. Das war nicht Dialekt, sondern die damals völlig übliche bairische Schriftsprache gebildeter Schreiber. Mit Robert Hinderling (1984) ist es historischer Zufall, dass das Niederländische eine eigenständige Sprache wurde, das Bairische, das Schweizerdeutsche oder das Niederdeutsche aber nicht. Was die Ableitung von der Standardsprache angeht, entsprechen die norddeutschen Verhältnisse in jeder Hinsicht den bayerischen.
Aus systemlinguistischer Sicht ist von den grammatischen Besonderheiten her, so Hinderling (1984), "das Eigengepräge des Bairischen gegenüber dem Schriftdeutschen so stark, dass es genügen würde, ihm den Status einer eigenen Sprache zu verleihen"; der Abstand Bairisch - Hochdeutsch sei größer als der zwischen Dänisch und Norwegisch oder Tschechisch und Slowakisch. Ich teile diese Einschätzung; sie ist auf Fränkisch und Schwäbisch-Alemannisch übertragbar. Um nur einige selbständige Züge des Bairischen zu nennen: Es gibt bairische "Kennwörter" (Kranzmayer 1960, 16), Wortschatzbesonderheiten, die nur in Altbayern und Österreich vorkommen, Pfoad für ?Hemd', Firta für ?Schürze' und andere mehr. Bairisch hat eigenständige Personalpronomina (Nom.) es, (Akk., Dat.) enk für die zweite Person Plural entsprechend standardsprachlich ihr, euch. Nebensatzeinleiter werden im Bairischen wie Verben flektiert (wennst kimmst 'wenn du kommst'). Das Flexionssystem des Substantivs hat eine ganz eigenständige Prägung. Entsprechende Argumente lassen sich auch für das Fränkische und das Schwäbisch-Alemannische anführen. Ich beschränke mich auf ein
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einziges Beispiel: Viele fränkische Varietäten weisen eine ganz andere Verteilung der Infinitivformen des Verbs auf als das Standarddeutsche. Es gibt mehrere Infinitivformen, etwa um Würzburg: as (z.B. nach Modalverb) und asn (z.B. nach zu) für 'essen', in einigen Kontexten kommt (etwa um Coburg) ein Präfix hinzu: künn gas 'essen können'. Die linguistische Distanz von Bairisch, Fränkisch oder Schwäbisch-Alemannisch und Plattdeutsch zur Standardsprache hin ist also ähnlich, insbesondere wenn man nicht nur die Lautung, sondern auch Grammatik und Wortschatz berücksichtigt. Wenn das Plattdeutsche unter den "Regionalsprachen" mit dabei ist, dann darf auch das Bairische, Schwäbisch-alemannische und Fränkische als Regionalsprachen für die Charta angemeldet werden . Als objektive Kriterien für den Sprachenstatus werden manchmal Wörterbuch, Grammatik, eine gewisse Standardisierung und eine gewisse Verbreitung in den Medien verwendet. In der Regel aber sehen Staaten im Rahmen der Charta für ihre Regionalsprachen von Maximalforderungen ab. Für das Niederdeutsche wie das Bairische gibt es kein Rechtschreibregelwerk, keine Elementarfibel und kein Schullesebuch. Aber es gibt Grammatiken, Wörterbücher und eine reiche Literatur sowie eine Präsenz in Funk und Fernsehen. Wichtige faktische Grundbedingungen einer "Sprache" wären damit erfüllt.
Was für das Bairische, das Fränkische und das Schwäbisch-Alemannische lange gefehlt hat, ist ein ausgeprägtes sprachliches Selbstbewusstsein unter der Bevölkerung des Freistaats. Der Wille zur eigenen Sprache war bisher insgesamt noch wenig ausgeprägt. Am stärksten ist er in Altbayern, aber auch hier verstehen manche das Bairische eher als Dialekt des Deutschen. Ein Vertreter dieser Richtung ist der Regensburger Gelehrte Ludwig Zehetner, der in seinem Lexikon "Bayerisches Deutsch" formuliert (2018, 15), es heiße nicht "Bairisch gegen Deutsch", sondern "Bairisch ist Deutsch!".
Aber die Aufnahme wird eine positive Einwirkung auf die sprachliche Situation des Freistaats haben. Sie wird eine stärkere Einbindung der Regionalsprachen in die Lehreraus- und -fortbildung sowie in den Schulunterricht nach sich ziehen. Sie muss eine Besserung im für den Spracherhalt sehr kritischen Vorschulbereich nach sich ziehen. Da ich ansonsten unterstelle, dass der politische Wille, finanzielle Förderung des Landes in zweisprachige Beschilderung, Übersetzung offizieller Schreiben usw. zu investieren, nicht groß sein wird, vermute ich, dass sich wie im Falle Plattdeutsch in Norddeutschland letztlich im Alltag wenig ändern würde. Eine Standardisierung halte ich weder für erstrebenswert noch für durchsetzbar. Anderseits kann ich keine weiteren Gefahren der Aufnahme erkennen, sofern die Sprachgemeinschaften selber den Regionalsprachenstatus nachvollziehen können.
Welche Unterstützung wird man in der Bevölkerung für die Aufnahme des Bairischen, Fränkischen, Schwäbisch-Alemannischen als Regionalsprachen im Sinne der Charta in der Bevölkerung erfahren? Als der Gutachter vor zwei Jahrzehnten zweimal im Rundbrief des "Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte" auf die Debatte über das Plattdeutsche als Regionalsprache hinwies und anregte, das Bairische ebenfalls anzumelden, blieb das noch ohne große Resonanz. Es
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war aber auch im Falle des Niederdeutschen so, dass die Einstufung als Regionalsprache von wenigen Interessenverbänden und sehr engagierten Mundartforschern forciert und getragen wurde. Im Jahr 2016 regte eine Gruppe von Abgeordneten des Bayerischen Landtags an, die Staatsregierung möge die Aufnahme in die Charta für Bayern in die Wege leiten. Leider vertraten damals die befragten wissenschaftlichen Gutachter meist den oben genannten Standpunkt, dass Bairisch, Fränkisch und Schwäbisch-Alemannisch Dialekte des Deutschen seien. Einige kritisierten sogar die Aufnahme des Niederdeutschen als falsch. Ich selber war mir damals nach meiner Erfahrung von vor zwei Jahrzehnten nicht sicher, ob die Sprachgemeinschaften selber die Aufnahme begrüßen würden. Das hat sich geändert. In Bayern kann man, so scheint mir, heute auf größere Unterstützung bauen. Nach meiner Erfahrung ist eine Generation herangewachsen, die in allen Situationen des Alltags zweisprachig ist, die die Standardsprache und die ortsspezifische Sprache gleichmäßig beherrschen und einsetzen. Diese Leute sehen die Schriftsprache oft nicht nur als Ergänzung ihrer Dialektkompetenz, sondern auch als Gefahr dafür. "Wikipedia bairisch" etwa deklariert Bairisch offen als "Sprache". Auch die neue Generation der Mitglieder des "Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte", einer mitgliedsstarken Interessenvertretung, betrachten ihr Bairisch als Sprache und bereuen die Entscheidung ihrer Vorgänger, das Bairische nicht für die Charta anzumelden. Ich schätze den Prozentsatz der Befürworter in Bayern als höher ein als die Zahl derer, die sich damals für die Aufnahme des Niederdeutschen starkmachten. Darum sehe ich eine breite Unterstützung für die Anmeldung des Bairischen, Fränkischen und Schwäbisch-Alemannischen für die Charta als gegeben an und plädiere dafür, dass die zuständigen Stellen, dies bewerkstelligen.
Zitiert habe ich folgende Werke: Hinderling, Robert (1984): Bairisch - Sprache oder Dialekt? In: Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1983, Rüdiger Harnisch (ed.), 47-64. Bayreuth. - Kranzmayer, Eberhard (1960): Die bairischen Kennwörter und ihre Geschichte. Graz, Wien, Köln. - Zehetner, Ludwig (2018): Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. 5. Aufl.. Regensburg.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Anthony Rowley