- Bis heute gelten die Bayern als eigenwillige Sonderlinge. Doch wo kommt dieses Volk eigentlich her? An dieser Frage beißt sich die Geschichtswissenschaft seit Jahrhunderten die Zähne aus. Forscher vermuten neuerdings, dass die Bayern doch nicht aus Böhmen eingewandert sind. Von Hans Kratzer
So bedeutend, wie sie früher einmal waren, sind die Bayern schon lange nicht mehr. Die Mitglieder der Staatsregierung glauben zwar noch, dass sie ein eigenstaatliches Land durch den bundesrepublikanischen Föderalismus lenken, doch die Bundesregierung betrachtet Bayern spätestens seit der Wiedervereinigung nur noch als abhängige Berliner Provinz. Trotzdem gelten die Bayern nach wie vor als ein eigenwilliges Volk, das sich anders gebärdet als der Rest der Republik. Sie werden zwar oft belächelt, aber auch beneidet wegen ihres Wohlstands, ihrer schönen Landschaft und ihrer Kultur, die Phänomene wie Neuschwanstein, den FC Bayern und das Oktoberfest hervorgebracht hat.
Im Grunde genommen weiß man heute alles über die Bayern, sie sind ethnologisch durchleuchtet bis in die hintersten Winkel ihrer Lederhosen. Nur das größte Rätsel ist nach wie vor ungeklärt. Wo kommt dieses Volk her? An dieser Frage beißt sich die Geschichtswissenschaft seit Jahrhunderten die Zähne aus, noch dazu, als zwischen dem Abzug der Römer aus Südbayern (anno 488) und der ersten Erwähnung der Bajuwaren (551) eine Art dunkles Loch klafft, in dem kaum etwas zu erkennen ist.
Immerhin sind in schöner Regelmäßigkeit Lösungen präsentiert worden, die zum Teil heute noch populär sind und in den Medien eifrig publiziert werden. Die gängigste Theorie lautet, dass die Bayern ursprünglich aus Böhmen stammten und nach dem Abzug der römischen Besatzungsmacht im 5. Jahrhundert in die weitgehend entvölkerte Gegend südlich der Donau eingewandert seien.
Sogar die Landesaustellung über die Bajuwaren im Jahre 1988 vermittelte dem Publikum noch die Vorstellung, dass der Name Baiern nichts anderes als Männer aus Böhmen bedeutet, die aus dem Osten gekommen seien und sich mit versprengten Germanen sowie mit dem kleinen Rest der römischen-keltischen Bevölkerung vermischt habe.
In den vergangenen Jahren aber hat sich das Bild gründlich gewandelt. Die Frühgeschichte Bayerns, die vor zwei Jahrzehnten als fast geklärt galt, wirft im Licht der neuesten Forschung mehr Fragen auf denn je. Von einer Einwanderung aus Böhmen redet heute in der Wissenschaft niemand mehr. Der Archäologe Hubert Fehr vertritt die These, bei der behaupteten Neubesiedlung des Alpenvorlandes durch germanische Zuwander handele es sich um eine sogenannte Meistererzählung, die archäologisch nicht belegt werden könne.
Ein soeben erschienener Sammelband über die Anfänge Bayerns zeigt mit vielen neuen Ansätzen auf, dass die Wissenschaft von der Lösung des hochkomplizierten Problems wieder weit entfernt ist. Das zeigt sich schon daran, dass die Texte zum Teil ganz unterschiedliche Standpunkte darlegen und zum Teil auch konkurrieren. Und doch geben verschiedene Puzzleteilchen eine Vorstellung davon, was sich im 5. und 6. Jahrhundert zwischen Donau und Alpenraum wirklich abgespielt hat.
Die Aufsätze bilden die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung in Benediktbeuern im Jahr 2010 ab, in der deutlich geworden war, dass die Herkunft der Bayern nur im Zusammenspiel verschiedener Wissenschaften wie der Archäologie und der Sprachwissenschaft geklärt werden kann. "Die Frühgeschichte Bayerns ist offener denn je", sagen die Wissenschaftler Hubert Fehr und Irmtraud Heitmeier, die Herausgeber des Tagungbandes.
Früh erwachtes Selbstbewusstsein Archäologische Funde und eine neue Interpretation der Quellen lassen immerhin den Schluss zu, dass Bayern weniger germanische als romanische Wurzeln hat. Der Bruch zwischen Spätantike und Frühmittelalter ist bei weitem nicht so massiv wie lange Zeit angenommen wurde, sagt Frau Heitmeier. Von einem Abzug der römischen Bevölkerung kann nicht die Rede sein, auch die Strukturen des römischen Reichs bestanden fort, was im Übrigen auch viele lateinische Sprachreste in den bayerischen Mundarten zu bestätigen scheinen.
Gegen eine Einwanderung der Bayern aus dem Osten spricht auch die Analyse von Ludwig Rübekeil, der den Baiern-Namen im Kontext sämtlicher -varii-Namen untersuchte und aufzeigt, dass er keine ethnische, sondern eine militärische Grundlage besitzt und nichts über die Herkunft aussagt. Als einer der interessantesten Funde aus dem 5. Jahrhundert wird das Gräberfeld von Unterhaching dargestellt. Es zeigt, dass damals an einer verkehrstechnisch und administrativ wichtigen Stelle auf der Münchner Schotterebene eine hochrangige Personengruppe ansässig war, die auch christlichen Glaubens war.
Für Hubert Fehr ist heute nicht mehr entscheidend, wo die Bajuwaren herkamen, sondern wann die Menschen selber angefangen haben, sich als Bajuwaren zu verstehen, wann eine bajuwarische Identität entstand. Erstmals deutlich wird das bayerische Selbstbewusstsein in einem Spruch aus der damaligen Zeit, der im sogenannten Kasseler Glossar festgehalten ist: "Dumm sind die Welschen, klug sind die Bayern."
Die Anfänge Bayerns, Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hrsg. von Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier, EOS Verlag, 2012, 663 Seiten, ISBN 978-3-8306-7548-8, 49 Euro.
- zur Namensherkunft siehe keltisch barra